Salih Muslim: "Wir brauchen Hilfe jeglicher Art!"

Michael Pusch

Salih Muslim ist seit 2010 neben Asya Abdulla Co-Vorsitzender der kurdischen Partei PYD. Im November 2013 beschloss die PYD gemeinsam mit einer assyrisch-aramäischen Partei und weiteren Parteien im Norden Syriens eine Übergangsverwaltung aufzubauen. Ziel war es den durch den Krieg entstandenen Missständen in der Versorgung der Bevölkerung und in der Verwaltung zu begegnen. Daraus entstand das "Modell Rojava", das zum Vorbild in Sachen Basisdemokratie und Gleichberechtigung aller Ethnien und Religionen für den ganzen Nahen und Mittleren Osten wurde. Aber diese Erfolge sind bedroht. Seit fast einem Jahr durch den Daesh ("Islamischer Staat) aber auch durch die Politik der türkischen Regierung. Salih Muslims Aufenthalt in Bielefeld gab uns Gelegenheit zu einem Interview.

MP: Welche Veränderungen ergeben sich aus der Aufkündigung des Waffenstillstandes mit der PKK durch die türkische Regierung für die PYD und für Rojava?

Salih Muslim: Die kurdische Gesellschaft gehört zusammen. Insbesondere die Kurden in Rojava haben viele Verwandte in der Türkei. Die Aufkündigung des Waffenstillstandes durch die türkische Regierung verschlechtert die Lage in Rojava. War zum Beispiel zuvor noch Hilfe für Kobanê aus der Türkei möglich, so wird jetzt jegliche Hilfe erschwert. Wir hoffen und wünschen uns, dass bald wieder Frieden herrscht. Verhandlungspartner sind aber die türkische Regierung und die Kurden in der Türkei.

MP: Welche Rolle spielt die Terrorgruppe "Ahrar al-Scham" (1) beim Versuch der Türkei, eine "Pufferzone" in Nordsyrien einzurichten?

Salih Muslim: Die Idee einer Pufferzone ist Teil der Strategie der türkischen Regierung, ihren Einfluß in Syrien und weit darüber hinaus auszudehnen. Dieser Plan ist nicht neu. Um dieses Ziel zu erreichen baut die Türkei Gruppen wie "Ahrar al-Scham" auf. In Nordsyrien zwischen den zu Rojava gehörenden Kantonen Kobane und Afrin treffen die türkischen Pläne auf den Widerstand der Bevölkerung. Die Menschen dort haben begonnen sich selbst zu organisieren und lehnen die türkische Einmischung ab. Vor einem direkten militärischen Eingreifen schreckt die Türkei zurück. Dies wäre ein Angriffskrieg gegen Syrien. Die USA haben uns versichert, dass sie einem Einmarsch der Türkei in Syrien nicht zustimmen werden.

MP: Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen den Ethnien in Rojava, besonders zwischen Kurden und Assyrern und Aramäern?

Salih Muslim: In den drei Kantonen Rojavas sichert die Verfassung allen Menschen unabhängig von Ethnie und Religion die gleichen Rechte zu. Auch in den Volksverteidigungseinheiten YPG und YPJ kämpfen Kurden, Assyrer-Aramäer, Araber und Turkmenen gemeinsam.

MP: Assyrische Verbände beschuldigen Mitglieder der YPG der Ermordung des assyrischen Militäranführers David Gindo. Was kannst du zu dem Vorfall sagen?

Salih Muslim: Wir sehen in dieser Tat den Versuch die kurdisch-assyrischen Beziehungen zu zerstören. Die 4 Täter wurden verhaftet. Ein Volksgericht, bestehend aus Kurden und Assyrern, verurteilte den Haupttäter zu 20 Jahren Haft, die Mittäter zu 5 bzw. 4 Jahren Haft. Das Urteil wurde von der Bevölkerung begrüßt. Wir hoffen, dass dieses Verbrechen das Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht nachhaltig verschlechtert.

MP: Stimmt es, dass du dich vor kurzem für ein Bündnis mit der Assad-Regierung ausgesprochen hast?

Salih Muslim: Es gibt keine Vereinbarungen zwischen uns und dem Assad-Regime. Wir wären sonst Teil des Regimes. Wir kooperieren eng mit den USA und der UN um den Friedensprozeß voranzubringen.

MP: Welche Rolle spielen die US-Luftschläge gegen den Daesh (2)?

Salih Muslim: Die Luftschläge gegen den Daesh sind von entscheidender Bedeutung für den Erfolg unserer Bodenoffensive. Wenn die Luftangriffe anhalten, werden wir die Region von der Daesh befreien können.

MP: Welche Art der Unterstützung braucht Rojava?

Salih Muslim: Vorweg: Wir befinden uns im Krieg. Diesen führen wir als Bollwerk gegen den Daesh für die ganze Menschheit. Daesh geht mit unvorstellbarer Grausamkeit vor. Auch gegenüber Frauen und Kindern.Der Krieg hinterlässt verwundete Menschen und zerstörte Städte und Dörfer. Wir brauchen Hilfe jeglicher Art! Wir brauchen Waffen und militärische Ausrüstung. Es fehlt an Medikamenten und Krankenhäusern, es fehlt an Mitteln für den Wiederaufbau.

Der Krieg wird in erster Linie gegen die Errungenschaften Rojavas geführt. Er wird gegen eine Gesellschaft geführt, in der alle unabhängig von Herkunft, Religion und Geschlecht die gleichen Rechte haben. Deshalb brauchen wir politisch-diplomatische Unterstützung von allen politischen Parteien, NGO's und Organisationen, die für die gleichen Ziele wie wir eintreten.

MP: Vielen Dank für das Gespräch.

Anmerkungen:

1 "Ahrar al-Scham" ("Islamische Bewegung der freien Männer der Levante") ist Teil der "Islamistischen Front" in Syrien. Die oft als "gemäßigt" bezeichnete Terrororganisation wird von der Türkei unterstützt und soll dabei helfen zu verhindern, dass eine Verbindung zwischen den Kantonen Kobane und Afrin und somit eine zusammenhängende autonome Region Rojava entsteht.

2 Wir ziehen die aus den arabischen Anfangsbuchstaben abgeleitete und im arabischen Sprachgebiet verbreitete Bezeichnung "Daesh" der Eigenbezeichnung "Islamischer Staat" vor.

Vielen Dank an Ibrahim Kus für die Übersetzung. Die Fragen stellte Michael Pusch.